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Titel: Knowing Peace Decolonial Deliberations on Epistemic Oppression and Power Dynamics
Autor(en): Merkle, Lena
Gutachter: Spencer, Alexander
Körperschaft: Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, Fakultät für Humanwissenschaften
Erscheinungsdatum: 2024
Umfang: verschiedene Seitenzählungen
Typ: HochschulschriftIn der Gemeinsamen Normdatei der DNB nachschlagen
Art: Dissertation
Tag der Verteidigung: 2024
Sprache: Englisch
URN: urn:nbn:de:gbv:ma9:1-1981185920-1194550
Schlagwörter: Friedensbewegung
Imperialismus
Epistemic Oppression
Zusammenfassung: Wissen ist ein in der Friedens- und Konfliktforschung (FKF) bisher eher wenig behandeltes Thema. Dies ist verblüffend, da es auf diversen Ebenen eine wichtige Rolle für das Feld spielt. Die vorliegende Dissertationsschrift befasst sich daher mit unterschiedlichen Dimensionen von Frieden, Gewalt und Wissen, um die Relevanz des Themas deutlich zu machen und zur Situierung der bereits existenten Diskurse und Forschungsstände im Feld beizutragen. Zu diesem Zweck wird zunächst einmal die mangelnde Konzeptionalisierung des Dualismus aus Wissen für und über den Frieden festgestellt. Zum einen fällt es der FKF weiterhin schwer ein positives Konzept von Frieden zu definieren und sie greift in der Praxis oft auf negative Verständnisse von Frieden als Abwesenheit von Gewalt und Krieg zurück. Dabei werden existente Friedenskonzeptionen aus diversen Denktraditionen jenseits der eurozentristischen Universität weiterhin marginalisiert. Auch die im deutschen Diskurs traditionell präsente Theoretisierung der Friedenslogik erhält kaum noch Aufmerksamkeit. Zum anderen wird die Rolle, die Wissen für den Frieden spielen kann, und damit dem normativen Anspruch des Feldes entsprechen kann, friedensfördernd zu agieren, kaum thematisiert. Zwar sind einzelne Autor*innen in den letzten Jahren damit beschäftigt, Wissen und seine Relevanz für Gewalt in der FKF zu etablieren, die Friedensperspektive bleibt dabei jedoch meist auf der Strecke. Zu diesem Zweck betrachte ich im Rahmenpapier drei Ebenen von Wissen, jeweils zunächst mit Bezug auf ihre Relevanz für Konflikte und hinsichtlich einer kritischen Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Wissenspraktiken. Anschließend werden dann Potenziale für Frieden und Widerstand gegen gewaltsame Machtverhältnisse betrachtet. Die drei behandelten Ebenen sind der Zugang zu Wissen, die Produktion von Wissen und die Unterdrückung von Wissen. Bezüglich des Zugangs zu Wissen werden die Dimensionen von Narrativ, Erinnerung und Diskurs thematisiert. Narrative spielen eine wichtige identitätsstiftende Rolle, durch die die eigene Gruppe von anderen abgegrenzt wird und die Welt kollektiv interpretiert und mit Sinn versehen wird. Gerade in Konflikten sind Narrative für die jeweilige Gruppenidentität von zentraler Bedeutung und können zur Loyalität und Opferbereitschaft der Gruppenmitglieder beitragen. Daher ist auch das Vorenthalten von Gegennarrativen oder Narrativen der gegnerischen Gruppe ein Mittel zur Kontrolle und wird benutzt um bewusst die Kohäsion zu steigern. Hierbei spielen auch Erinnerungen eine entscheidende Rolle, die von der Gruppe gemeinsam konstruiert und durch Repetition verstärkt werden. Politische Handlungen werden durch den Rekurs auf prägende kollektive Erinnerungen legitimiert und Neuinterpretationen von geschichtlichen Ereignissen gehen oftmals mit Regimewechseln einher, können aber in ihrer repressiven Form auch ein Anzeichen zunehmend autoritärer Regime sein. Das bewusste Hinterfragen von historischen Interpretationen ist jedoch auch ein subversiver Ansatz, mit dem dominante und hegemoniale Geschichtsnarrative enttarnt und hinterfragt werden und zu diesem Zweck ein gängiges Vorgehen des dekolonialen Aktivismus. Dabei werden Diskurshoheiten und hegemoniale, staatstragende Ideologien in Frage gestellt. Diese schaffen den Rahmen des Sagbaren und sind dabei durchaus exklusiv. Damit einher geht auch die Kommodifizierung von Wissen sowie dessen Nutzung in Form von Informationen, um weiter Kontrolle auszuüben. Selbstverständlich können Narrative, Erinnerungen und Diskurse jedoch nicht nur Unterdrückung und Konflikt vorantreiben, sondern auch Frieden fördern. Durch Narrativen etwa, die Mitgefühl und Verständnis in den Mittelpunkt stellen, können Differenzen zwischen Konfliktparteien oder auch mit externen, intervenierenden Kräften an Dominanz verlieren und insbesondere Empathie gefördert werden. Das Kapitel zu Wissensproduktion betrachtet wie Wissen in der Zivilgesellschaft und der Privatwirtschaft, im Bildungssektor und in Institutionen kreiert und produziert wird. Dabei wird Wissen nicht nur durch bewusste Prozesse kreiert, sondern entsteht auch durch alltägliche Interaktionen. Dementsprechend ist Wissen oftmals stark spezifisch und kontextuell. Gruppen produzieren Wissen aufgrund ihrer Bedürfnisse, Interessen und Aufgaben, welches der Allgemeinheit nicht immer zugänglich oder für diese verständlich ist. Gleichzeitig wird insbesondere Wissen marginalisierter Gruppen oftmals vom Mehrheitsdiskurs ausgeschlossen. Dabei entsteht in zivilgesellschaftlichen wie auch Privatwirtschaftlichen Kontexten nicht nur neues Wissen, sondern dieses wird von dort auch verbreitet oder mit politischem Gewicht versehen. In der FKF ist hier insbesondere lokales Wissen über Konflikte und Konfliktgebiete von enormer Bedeutung. In Bildungsinstitutionen wird Wissen nicht nur vermittelt, sondern ebenfalls kreiert und neuinterpretiert und dieser Prozess kann durch entsprechende pädagogische Ansätze gefördert werden. Hier spielt auch die Friedensbildung eine entscheidende Rolle, die insbesondere emanzipatorische und selbstverantwortliche Kompetenzen fördert. Internationale Organisationen, politische Think Tanks und ähnliche Akteure haben sich in den vergangenen Jahren zunehmend als Orte der Wissensproduktion etabliert, betreiben dabei aber auch Agendasetting und nutzen ihren Einfluss, um bestimmte Perspektiven zu mainstreamen. Universitäten sind selbstverständlich zentrale Institutionen der Wissensproduktion, jedoch ebenfalls nicht unabhängig von politischen Interessen und neoliberaler Kommodifizierung. Dabei wird Wissen als Publikation zur Ware und Universitäten müssen in Rankings überzeugen. Hinzu kommt eine Hierarchisierung in kolonialer Kontinuität, in welcher der globale Norden Ursprung der Kriterien ist, nach denen er sich selbst die qualitative hochwertigste Forschung attestiert. Kritische, partizipative und kollaborative, aber auch aktivistische und subversive Forschungsansätze können hier die globalen Machtdynamiken der Wissensproduktion unterwandern und Alternativen schaffen, die nicht nur egalitärer und vielfältiger sind, sondern auch komplexere und hochwertigere Forschung leisten können. Im Kapitel zur Unterdrückung von Wissen liegt der Fokus auf dem Konzept der epistemischen Ungerechtigkeit, welches Kontexte beschreibt, in welchen Menschen epistemisch diskriminiert und marginalisiert werden, wobei sie nicht als Wissende wahrgenommen werden und das Wissen, welches sie besitzen, nicht ernstgenommen oder als Wissen kategorisiert wird. Andererseits können Menschen auch epistemische Ungerechtigkeit erfahren, wenn das Wissen, welches ihnen zur Verfügung steht, ihnen nicht die Möglichkeit gibt, die eigenen Erfahrungen zur verstehen oder zu artikulieren. Epistemische Gewalt ist ein verwandtes Konzept, welches den Fokus stärker auf die strukturellen Dimensionen lenkt und insbesondere in einem post- und dekolonialen Kontext verwendet wird. Es thematisiert daher auch das strukturelle Stummmachen von subalternen kolonialen Subjekten. Damit sind diese Phänomene Formen epistemischer Unterdrückung. In extremen Formen kann epistemische Unterdrückung zu Auslöschung von Wissen oder zu Epistemiziden führen, wobei als Ziel oder als Nebeneffekt von Genoziden ganze Wissenstraditionen ausgerottet werden. In Bezug auf FKF ist dabei insbesondere auch relevant, inwiefern Frieden eine Form epistemischer Unterdrückung sein kann. Dies passiert etwa durch autokratische Regime, welche durch strikte Regularien und hohe Präsenz von Staatsgewalten ein augenscheinlich friedliches Umfeld schaffen, dabei aber keinerlei Dissens erlauben. Auch liberale Formen des Peacebuilding tendieren dazu, durch den Import von immer gleichen Wissenskonstruktionen über Frieden und Demokratie, lokale Wissen und Wege zum Frieden zu unterdrücken. In postkolonialen Staaten geht dies zudem auf Kosten von konstruktivem gesellschaftlichen Wandel, welcher zugunsten von oberflächlichem Frieden unterdrückt wird; dabei wird primär auf epistemologische Formen der Besetzung und Unterdrückung zurückgegriffen. Im Schlusskapitel wird daher betrachtet, wie solchen Strukturen umfassender entgegengearbeitet werden kann, um Wissen über und für den Frieden zu stärken. Dazu liegt der Fokus zunächst auf dekolonialen Friedenskonzeptionen. Hier gibt es eine Vielzahl an Zugängen, die Frieden als prozessual und im Wandel, emphatisch und verkörpert oder iterativ und dialogisch begreifen. Hinzu kommen grundlegende Veränderungen des Friedensbegriffs, die etwa die Dichotomie zwischen Frieden und Konflikt als Gegensatzpaar auflösen oder Frieden als etwas begreifen, was bereits in der Welt ist und daher nicht neu geschaffen werden muss. Durch die Wahrnehmung vielfältiger Friedenskonzeptionen wird zum einem dem hegemonialen Anspruch einer europäischen Wissenstradition entgegengewirkt und zum anderen Raum gegeben, auf individuelle Herausforderungen fokussiert und weniger gewaltsam zu reagieren. Dies ist auch der Kern des zweiten diskutierten Ansatzes der Pluriversalität. Hierbei handelt es sich um einen Begriff der dekolonialen Theorie, welcher die gleichzeitige Existenz verschiedener Epistemologien und Wissen beschreibt, ohne dass hegemoniale Tendenzen entstehen. Stattdessen existieren die Wissenskontexte nicht nur gleichzeitig, sondern auch in Wertschätzung und im Austausch miteinander. Ein solcher Ansatz wäre nicht nur ein effektiver Weg gegen epistemische Unterdrückung vorzugehen, sondern auch eine Bereicherung wissenschaftlicher Diskurse. All dies führt zu dem Schluss, dass die FKF eine dekoloniale Epistemologie benötigt. Theorie und die von ihr informierte Praxis sind Teil hegemonialer Praktiken und das Wissen des Feldes ist oftmals stark eurozentristisch geprägt. Gleichzeitig ist die FKF historisch stark in herrschaftskritischen Forschungsansätzen und Bewegungen verortet und dadurch prädestiniert, eine stärkere Präsenz dekolonialer Epistemologien voranzutreiben. Dadurch wird mittelbar auch das Ziel, Wissen für und über den Frieden zu schaffen, unterstützt. Die vorliegende Arbeit unternimmt einen Schritt in eben diese Richtung. Zu diesem Zweck besteht sie neben der eben beschriebenen Rahmung aus drei individuellen Leistungen, die den Themenkomplex Wissen und Frieden behandeln. Der erste Artikel trägt den Titel „Finding Peace in a Thought Experiment? Eidetic Variations on Knowledge Ownership as a Perspective in Peace Education” und unternimmt eine Systematisierung verschiedener Formen von Eigentum von Wissen als Eigentum von einem, von manchen und von allen. Diese drei Ebenen werden mit der Methode einer eidetischen Variation untersucht, um zu identifizieren, inwiefern sich die drei Formen von Eigentum auf gesellschaftliche, epistemische Machtdynamiken auswirken. Die Analyse findet anhand der Kategorien des Wissens, des Wissenden und der Institutionalisierung von Wissen statt. Zudem wird Friedensbildung und antikolonial libertäre Pädagogik als Gegenelement zu hegemonialen Wissenstendenzen betrachtet. Die Analyse findet dabei sowohl auf der abstrakten Ebene des Gedankenexperiments als auch auf der konkreten Ebene empirischer Beispiele statt. Dabei wird deutlich, wie diskriminierende und marginalisierende Elemente Raum in jeder Variation finden, jedoch prägen sie sich unterschiedlich aus. Eine Gesellschaft, in welcher Wissen das Eigentum einzelner ist, tendiert dazu eine große Bandbreite an Wissen zu ermöglichen, kommodifiziert dieses jedoch wahrscheinlich und hat daher einen restriktiven Zugang zu Bildung. Dies bedeutet, dass insbesondere finanziell marginalisierte Personen, nur schwer Zugang bekommen. Dies wird verstärkt durch den wahrscheinlichen Mangel an Wissensinstitutionen und deren abermals restriktiven Zugang. Für jene, welche sich Bildung leisten können, wird hingegen ein großes Angebot zur Verfügung stehen. Dem kann durch Bildungsinitiativen begegnet werden und indem Friedensbildung sich auf die Forderung von Gemeinschaft und Solidarität fokussiert. Wenn Wissen manchen gehört, wie etwa einer bestimmten Gruppe, so kann dies innerhalb der Gruppe sowohl hierarchische als auch egalitäre Formen annehmen. In jedem Fall ist eine klare Abgrenzung zur restlichen Gesellschaft, vor der Wissen geschützt wird, wahrscheinlich. Gruppenmitglieder können Wissende werden und werden als solche anerkannt, während Außenseiter*innen keinen Zugang erhalten. Daher wird auch die Bildung durch die Gruppe übernommen und in diesem Kontext institutionalisiert. Abweichungen werden potenziell sanktioniert. Sollte die Gruppe bzw. das Gruppenwissen marginalisiert sein, bietet diese Struktur eine hervorragende Basis für Widerstand. Friedenspädagogik könnte in diesem Kontext den Fokus auf Möglichkeiten zum Austausch und zur Kollaboration zwischen der Gruppe und dem Umfeld legen. Wenn Wissen allen gehört, sind die Hürden, Wissen zu erhalten, sehr gering. Jede*r kann sich Wissen zu eigen machen und Wissensinstitutionen sind entsprechend leicht zugänglich. Dieser hohe Grad der Institutionalisierung von Wissen führt aber wahrscheinlich auch zu einer starken Homogenisierung des Wissens. Wissen, welches nicht Teil des institutionalisierten Kanons ist, könnte dabei leicht marginalisiert werden. Hier gilt es also, die vorgegebenen Denkstrukturen zu entlernen, um so Raum für diverseres Wissen zu schaffen. Die Friedensbildung kann hier unterstützen, indem sie die Wertschätzung sowie den Umgang mit Vielfalt fördert. Die Systematisierung macht also deutlich, wie verschiedene Wissenseigentümerschaften verschiedene Machtstrukturen zur Folge haben. Die Dynamiken sind dabei klar entlang von Eigentum als zentraler Komponente strukturiert, die Auswirkungen hingegen stehen in direktem Verhältnis zu den Vorurteilen und marginalisierenden Strukturen einer Gesellschaft. Die Friedensbildung ist hier eine wichtige Ressource, um Diskriminierung entgegenzuwirken und emanzipierten Umgang mit Wissen und Epistemologien zu fördern. Daraus entsteht eine besondere Verantwortung für Forschende und Lehrende, Wissen in diesem Sinne zu fördern. Im zweiten Artikel mit dem Titel „Epistemological Anarchism against Epistemic Violence? A Rereading of Paul Feyerabend towards the Decolonisation of Academic Knowledge Production” steht das Konzept der Epistemischen Gewalt im Zentrum. In einer vergleichenden Betrachtung wird eine dekoloniale Konzeption epistemischer Gewalt mit Paul Feyerabends Schriften verglichen. Feyerabend kreiert seinen epistemologischen Anarchismus als eine Kritik des Wissenschaftsbetriebs und macht gleichzeitig, wenn auch recht offen formulierte, Vorschläge für eine methodische wie epistemologische Weiterentwicklung der Wissenschaft. Im Vergleich wird deutlich, dass beide Ansätze ähnliche Aspekte thematisieren und die Kritiken relevantes Potenzial für Austausch haben. Beide Seiten thematisieren den Mythos der Universität als einer angeblich unfehlbaren, vernunftbasierten Institution mit signifikantem gesellschaftlichen Status, die jedoch diesem Bild de facto nicht gerecht wird. Während Feyerabend wissenschaftlich unsaubere Praktiken und Herrschaftshörigkeit kritisiert, fokussiert sich die dekoloniale Kritik auf hegemoniale Praktiken und limitiertes, eurozentristisches Wissen. Feyerabend versteht weiterhin die gesellschaftliche Rolle der Universitäten als demokratiegefährdend, aufgrund ihres gesellschaftlichen Status und durch die hegemoniale Stellung, die akademisches Wissen gegenüber anderen Wissen einnimmt. Stattdessen schlägt er mit dem demokratischen Relativismus eine Vielheit von Wissen vor, die gleichzeitig auch als Ausgangspunkt für Moralurteile fungieren. Abermals ist eine ähnliche Perspektive in der dekolonialen Theorie zu finden. Pluriverale und vielfältige Wissen sind eine grundlegende Idee dekolonialen Denkens und zielen auf die Gleichzeitigkeit verschiedener Epistemologien ab. Dabei steht insbesondere auch die lokale Situiertheit von Wissen im Vordergrund. Schließlich kritisiert Feyerabend noch die methodologischen Mängel akademischer Forschung und schlägt vor, alternative und kreative Formen der Wissensproduktion zu integrieren, jeweils nach der Maßgabe, was für das konkrete Projekt Sinn ergibt. Abermals finden sich ähnliche Gedankengänge in dekolonialen Ansätzen, wo insbesondere Wissensformen und Forschungsmethoden, wie auch -ergebnisse, die nicht textbasiert sind, eine zentrale Rolle spielen. Es wird deutlich, inwiefern Feyerabends epistemologischer Anarchismus und dekoloniale Theorien zu Wissen und Wissenschaft zueinander sprechen. Zwar stehen sie in unterschiedlichen Wissenstraditionen, jedoch sehen sie ähnliche Probleme des akademischen Systems und schlagen ähnliche oder anschlussfähige Lösungen vor. Dies ist insofern relevant, als es eine externe und interne Kritik der Universität erlaubt, die so an Legitimierung und an Perspektive gewinnt. Eine solch umfassende Perspektive ist im Sinne einer kritischen Forschung, die sich der Kritik an den eigenen Institutionen als Strukturen epistemischer Gewalt stellt. Der dritte Artikel trägt den Titel „Redefining a Global Cosmopolitanism. An Attempt towards Openness as a central Concept in Postcolonial Conflict Resolution”. Der Anfangspunkt ist dabei die Frage, ob Kosmopolitismus als Konzept ausgedient hat. Dazu werden die drei in der Literatur einschlägigen Kritikpunkte betrachtet und mit verschiedenen Konzeptionen von Kosmopolitismus kontrastiert. Zunächst existiert die Kritik, dass Kosmopolitismus ein eurozentristisches Konzept ist. Hier ist anzumerken, dass zwar der Name oftmals in den Kontext einer europäischen Ideengeschichte gestellt wird, ähnliche Ideen aber auch in anderen und insbesondere auch in präkolonialen Wissenstraditionen existieren. Die kosmopolitische Idee ist also keinesfalls ausschließlich eine europäische. Eine weitere Kritik versteht Kosmopolitismus als ein elitäres Konzept. Dies ist sicherlich gerechtfertigt für eine bestimmte Interpretation von Kosmopolitismus, die auf lifestyle cosmopolitanism genannt wird und einen internationalen, konsumorientierten Lebensstil beschreibt. Es gibt jedoch auch andere vernakulare und lokale Kosmopolitismen, die offene Sinneshaltungen und solche, die Vielfalt gegenüber positiv eingestellt sind, beschreiben, statt die Reisegewohnheiten einer Oberschicht. Schließlich besteht die Kritik, dass Kosmopolitismus ein hegemoniales Konzept ist. Diese Kritik existiert insbesondere im Kontext des liberalen Friedens und geht zurück auf die Nutzung des Konzeptes als Legitimierungsgrund für internationale Interventionen, ähnlich, wie es bereits zur Kolonialzeit gängig war. Die Kritik der Nutzung von Kosmopolitismus in diesem Sinne ist gerechtfertigt, richtet sich jedoch gegen einen konzeptionellen Missbrauch, nicht gegen das Konzept an sich. Dahingehend zeigen insbesondere post- und dekoloniale Konzeptionen von Kosmopolitismus inwiefern die Idee eben auch eine subversive Interpretation zulässt und als pluriversaler Ansatz tragfähig ist. Es wird also deutlich, inwiefern Kosmopolitismus als ein sehr breites Konzept Raum für unterschiedliche Interpretationen bietet und auch missbräuchliche zulässt. Gleichzeitig ist es jedoch ein relevanter Ansatz, da er durch seine Verbreitung vielfältig anschlussfähig ist. Dazu bedarf es jedoch einer offenen Konzeption mit viel Raum für lokale Aneignung. Dies ist insbesondere für die Praxis wichtig. Im Bereich der Konfliktbearbeitung etwa folgt ein signifikanter Teil der internationalen Einsatzkräfte einer elitären kosmopolitischen Denkweise. Dies hat konkrete Konsequenzen für die internationale Konfliktbearbeitung. Es kommt zu epistemischer Gewalt, Unterdrückungspraktiken und Hierarchien zwischen lokalen und internationalen Kräften. Durch formalisierte Zugänge werden lokale Besonderheiten ignoriert und der Erfolg der Projekte sinkt. Hier könnte ein neues Mindset eines offenen Kosmopolitismus nicht nur die Gewalttätigkeit internationaler Konfliktbearbeitung minimieren, sondern auch der Effektivität ihrer Arbeit einen Vorschub leisten. Neben den Leistungen der drei Einzelbeiträgen bringt sich die Dissertationsschrift als Ganzes daher in aktuelle Debatten der FKF und anderer Disziplinen, die zu Konflikt und Frieden arbeiten, ein. Sie schließt an das, sich noch in seinen Anfängen befindliche, Projekt der Dekolonialisierung der FKF an und erweitert dieses um eine Perspektive auf Wissen über und für den Frieden. Damit steht das Projekt in der Tradition kritisch-normativer Friedensforschung und zieht gleichzeitig Verbindungen zu anderen Fachdiskursen, die in der FKF noch stark unterrepräsentiert sind. Die verschiedenen Dimensionen epistemischer Unterdrückung, welche die Arbeit betrachtet, werden zu diesem Zweck stets mit Formen epistemischen Widerstandes und Unterstützung von Friedenswissen kontrastiert. Als Lösungsansatz werden pluriverse Denkansätze vorgeschlagen, die diverse Epistemologien in einen Austausch treten lassen. Dieser Ansatz ist ein wichtiger Schritt für die Zukunft der FKF als kritischer Disziplin mit ethisch fundierter und international relevanter Forschung.
URI: https://opendata.uni-halle.de//handle/1981185920/119455
http://dx.doi.org/10.25673/117496
Open-Access: Open-Access-Publikation
Nutzungslizenz: (CC BY-SA 4.0) Creative Commons Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International(CC BY-SA 4.0) Creative Commons Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International
Enthalten in den Sammlungen:Fakultät für Humanwissenschaften (ehemals: Fakultät für Geistes-, Sozial- und Erziehungswissenschaften)

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